Ae Fond Kiss...
Liebe zwischen den Kulturen
In der Schule findet man seine große Liebe. Für Tahara Khan, die gerade in Glasgow vor ihrem Abschluss steht, ist das Gegenteil der Fall. Wegen ihrer pakistanischen Abstammung wird sie von den Jungs der Klasse heftig beschimpft und körperlich angegangen. Als einmal ihr großer Bruder Casim auf Taharas Fersen durchs Schulhaus jagt, zwei Klassenkameraden haben gerade ihr Auto bespuckt, stolpern sie in den Musikunterricht der attraktiven, jungen Lehrerin Roisin Murphy. Casim zertrampelt eine Gitarre, und als er Roisin tags darauf eine neue vorbeibringt, bahnt sich mit wenigen Blicken eine außerordentliche Liebesgeschichte an.
Just a Kiss kann als letzter Teil einer Schottland-Trilogie von Ken Loach angesehen werden. Wo er aber mit My Name Is Joe (1998) und Sweet Sixteen (2002) noch das harte Leben der Unterklasse portraitierte, nähert er sich jetzt von unten der städtischen Mittelschicht und stellt den Konflikt der Religionen ins Zentrum. Loach war immer schon ein penibler Dokumentarfilmer, gleichzeitig ein fesselnder Geschichtenerzähler. In Just a Kiss spielt er nun mit einer Romeo-und-Julia-Geschichte den Konflikt zwischen Persönlichkeit und Gemeinschaft, zwischen der Offenheit von Gefühlen und der Geschlossenheit von Kollektiven durch.
Roisin hat eine Beziehung beendet und braucht jemand, der ihren Flügel in die neue Wohnung bringt. Casim organisiert dafür dieselben Jungs, die ihm gerade ans Elternhaus den Anbau für seine zukünftige Familie zimmern – in wenigen Wochen soll Casim eine unbekannte Cousine heiraten. Der Flügel-Transport in den ersten Stock wird zur schimpfwortreichen Angelegenheit. Nicht nur hier ist der humorvolle Blick von Just a Kiss auf seine Akteure herzlicher, als sonst bei Loach. Die bedrückende Bitterkeit, die sich bisher in seinen Sozialdramen breit machte, ist deutlich aufgelockert worden, stellenweise sogar einem hoffnungsvollen Gefühl der Heiterkeit gewichen.
Die Musik ist der Schlüssel zur Liebe zwischen Casim und Roisin. Sie ist Musiklehrerin, steht vor einer Festanstellung, ist vom katholischen Schul- und Gesellschaftssystem fast ganz eingenommen, auch wenn sie schon mal bei einem Schulgottesdienst ein wenig pietätvolles Lied anstimmen lässt. Da kommt der charmante und erfolgreiche DJ Casim ganz recht. Er will gerade einen eigenen Club auf die Beine stellen, seine kaufmännische Ausbildung und seine traditionelle muslimische Herkunft scheinen ihm nicht das Wichtigste. Behutsam finden beide zusammen. Ihre unterschiedlichen Kulturen werden zum Inhalt liebevoll beharrlicher Diskussionen. Inmitten eines städtischen Umfelds, dessen Überleben von unterschwelligen Ressentiments gegenüber anderen Religionen geprägt ist, werden Casim und Roisin zum Märchenpaar. Innerhalb der grauen Tristesse von Glasgows Häusersiedlungen ist hinter den Mauern ein Licht der Hoffnung entfacht; nur außerhalb, da muss Casim seine neue Freundin vor den Blicken seiner Großfamilie verstecken.
Der Traum wird von der Realität eingeholt: die katholische Kirche verbietet Roisin für eine Festanstellung eine außereheliche Beziehung; und wenn Casim nicht seine Cousine heiratet, dann platzt auch die geplante Ehe seiner Schwester Rukhsana. Seine Familie hätte damit ihr Gesicht verloren. Eines der vielen starken Bilder von Just a Kiss ist die Szene, in der Casim sein Dilemma Roisin offenbart: nicht im öden Schottland, sondern im traumhaften schönen Hotel an der spanischen Küste rückt er während eines Kurzurlaubs mit der düsteren Wahrheit heraus.
Melancholische Klavierklänge verbinden die Aufnahmen von Glasgow, bringen Romantik und Tragik zusammen. Dass aber Just a Kiss ein so erschütterndes Zeitbild geworden ist, liegt an der ungeheuer präzisen Ausgewogenheit, mit der Ken Loach und sein langjähriger Drehbuchschreiber Paul Laverty die Gesellschaftsgruppen darstellen. Wenn Rukhsana im Café Roisin bittet, ihren Bruder zu verlassen, oder wenn Vater Tariq Khan im Moment absoluter Verzweiflung über seinen Sohn auf den neuen Anbau einschlägt, dann sind hier nicht die verbohrten Akteure eines unmodernden Familiensystems am Werk. Dagegen schwingt in den Bildern genauso viel Verständnis für dieses Konzept von Gemeinschaft mit, wie für die Unabdingbarkeit der Liebe zwischen Casim und Roisin. Casims Kumpel Hammid erinnert ihn eindringlich an die Sicherheiten, die die muslimische Familie bis ins hohe Alter bietet. Beinahe möchte man dem smarten Atta Yaqub als Casim die Trennung raten, wenn Eva Birthistle ihre Roisin im Kampf um den Geliebten vehement an den Rand der Hysterie führt. Selten hat ein Film jedem einzelnen seiner Akteure die Rolle als Opfer wie Täter so gleichmäßig zugewiesen, so eindringlich ausgebreitet, wie Just a Kiss. Der Clash der Kulturen wird seines üblicherweise harten Aufpralls beraubt und in viele kleine schmerzhafte Konflikte zerstäubt.
Vater Khan ist Eigentümer eines kleinen Gemischtwarenladens. Er gehört zu den Moslems, die 1947 aus Indien vertrieben wurden, als die Briten sich ohne viel Verstand zurückzogen und die ehemalige Kronkolonie sich selbst überließen. Parallelen zu heutigen Krisenregionen tun sich auf, aber Roach will keine Lösung bieten. Vielleicht nur die Warnung, dass hierzulande die europäischen Lebens- und Glaubenskonzepte mit ihren unterschwelligen Rassismen gefährlicher sind, als die offen ausgelebten Traditionsmodelle der eingewanderten Religionsgruppen. Denn die einzig abstoßende Gestalt des Films ist der katholische Pfarrer. Dass er sich am allerwenigsten um die wirklichen Verhältnisse von Roisin schert, ihr aber seine realitätsfernen Vorschriften aufzwängen will und damit den Zusammenbruch ihrer Liebe und ihres Beruf in Kauf nimmt, macht ihn zum blinden Fanatiker. Das Kreuz, das hinter ihm an der Wand hängt, ist das bedrohlichste Zeichen für die Opferbereitschaft, die von den Liebenden in Just a Kiss verlangt wird.
Thomas Schöffner
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