Just a Kiss (GB/B/D/I/E 2004) : KRITIK : artechock (2024)

Ae Fond Kiss...

Liebe zwischen den Kulturen

In der Schule findet man seine große Liebe. Für Tahara Khan, die gerade in Glasgow vor ihrem Abschluss steht, ist das Gegenteil der Fall. Wegen ihrer pakis­ta­ni­schen Abstam­mung wird sie von den Jungs der Klasse heftig beschimpft und körper­lich ange­gangen. Als einmal ihr großer Bruder Casim auf Taharas Fersen durchs Schulhaus jagt, zwei Klas­sen­ka­me­raden haben gerade ihr Auto bespuckt, stolpern sie in den Musik­un­ter­richt der attrak­tiven, jungen Lehrerin Roisin Murphy. Casim zertram­pelt eine Gitarre, und als er Roisin tags darauf eine neue vorbei­bringt, bahnt sich mit wenigen Blicken eine außer­or­dent­liche Liebes­ge­schichte an.

Just a Kiss kann als letzter Teil einer Schott­land-Trilogie von Ken Loach angesehen werden. Wo er aber mit My Name Is Joe (1998) und Sweet Sixteen (2002) noch das harte Leben der Unter­klasse portrai­tierte, nähert er sich jetzt von unten der städ­ti­schen Mittel­schicht und stellt den Konflikt der Reli­gionen ins Zentrum. Loach war immer schon ein penibler Doku­men­tar­filmer, gleich­zeitig ein fesselnder Geschich­ten­er­zähler. In Just a Kiss spielt er nun mit einer Romeo-und-Julia-Geschichte den Konflikt zwischen Persön­lich­keit und Gemein­schaft, zwischen der Offenheit von Gefühlen und der Geschlos­sen­heit von Kollek­tiven durch.

Roisin hat eine Beziehung beendet und braucht jemand, der ihren Flügel in die neue Wohnung bringt. Casim orga­ni­siert dafür dieselben Jungs, die ihm gerade ans Eltern­haus den Anbau für seine zukünf­tige Familie zimmern – in wenigen Wochen soll Casim eine unbe­kannte Cousine heiraten. Der Flügel-Transport in den ersten Stock wird zur schimpf­wort­rei­chen Ange­le­gen­heit. Nicht nur hier ist der humor­volle Blick von Just a Kiss auf seine Akteure herz­li­cher, als sonst bei Loach. Die bedrü­ckende Bitter­keit, die sich bisher in seinen Sozi­al­dramen breit machte, ist deutlich aufge­lo­ckert worden, stel­len­weise sogar einem hoff­nungs­vollen Gefühl der Heiter­keit gewichen.

Die Musik ist der Schlüssel zur Liebe zwischen Casim und Roisin. Sie ist Musik­leh­rerin, steht vor einer Fest­an­stel­lung, ist vom katho­li­schen Schul- und Gesell­schafts­system fast ganz einge­nommen, auch wenn sie schon mal bei einem Schul­got­tes­dienst ein wenig pietät­volles Lied anstimmen lässt. Da kommt der charmante und erfolg­reiche DJ Casim ganz recht. Er will gerade einen eigenen Club auf die Beine stellen, seine kauf­män­ni­sche Ausbil­dung und seine tradi­tio­nelle musli­mi­sche Herkunft scheinen ihm nicht das Wich­tigste. Behutsam finden beide zusammen. Ihre unter­schied­li­chen Kulturen werden zum Inhalt liebevoll beharr­li­cher Diskus­sionen. Inmitten eines städ­ti­schen Umfelds, dessen Überleben von unter­schwel­ligen Ressen­ti­ments gegenüber anderen Reli­gionen geprägt ist, werden Casim und Roisin zum Märchen­paar. Innerhalb der grauen Tristesse von Glasgows Häuser­sied­lungen ist hinter den Mauern ein Licht der Hoffnung entfacht; nur außerhalb, da muss Casim seine neue Freundin vor den Blicken seiner Groß­fa­milie verste­cken.

Der Traum wird von der Realität eingeholt: die katho­li­sche Kirche verbietet Roisin für eine Fest­an­stel­lung eine außer­ehe­liche Beziehung; und wenn Casim nicht seine Cousine heiratet, dann platzt auch die geplante Ehe seiner Schwester Rukhsana. Seine Familie hätte damit ihr Gesicht verloren. Eines der vielen starken Bilder von Just a Kiss ist die Szene, in der Casim sein Dilemma Roisin offenbart: nicht im öden Schott­land, sondern im traum­haften schönen Hotel an der spani­schen Küste rückt er während eines Kurz­ur­laubs mit der düsteren Wahrheit heraus.

Melan­cho­li­sche Klavier­klänge verbinden die Aufnahmen von Glasgow, bringen Romantik und Tragik zusammen. Dass aber Just a Kiss ein so erschüt­terndes Zeitbild geworden ist, liegt an der ungeheuer präzisen Ausge­wo­gen­heit, mit der Ken Loach und sein lang­jäh­riger Dreh­buch­schreiber Paul Laverty die Gesell­schafts­gruppen darstellen. Wenn Rukhsana im Café Roisin bittet, ihren Bruder zu verlassen, oder wenn Vater Tariq Khan im Moment absoluter Verzweif­lung über seinen Sohn auf den neuen Anbau einschlägt, dann sind hier nicht die verbohrten Akteure eines unmo­dernden Fami­li­en­sys­tems am Werk. Dagegen schwingt in den Bildern genauso viel Vers­tändnis für dieses Konzept von Gemein­schaft mit, wie für die Unab­ding­bar­keit der Liebe zwischen Casim und Roisin. Casims Kumpel Hammid erinnert ihn eindring­lich an die Sicher­heiten, die die musli­mi­sche Familie bis ins hohe Alter bietet. Beinahe möchte man dem smarten Atta Yaqub als Casim die Trennung raten, wenn Eva Birt­histle ihre Roisin im Kampf um den Geliebten vehement an den Rand der Hysterie führt. Selten hat ein Film jedem einzelnen seiner Akteure die Rolle als Opfer wie Täter so gleich­mäßig zuge­wiesen, so eindring­lich ausge­breitet, wie Just a Kiss. Der Clash der Kulturen wird seines übli­cher­weise harten Aufpralls beraubt und in viele kleine schmerz­hafte Konflikte zerstäubt.

Vater Khan ist Eigen­tümer eines kleinen Gemischt­wa­ren­la­dens. Er gehört zu den Moslems, die 1947 aus Indien vertrieben wurden, als die Briten sich ohne viel Verstand zurück­zogen und die ehemalige Kron­ko­lonie sich selbst über­ließen. Paral­lelen zu heutigen Krisen­re­gionen tun sich auf, aber Roach will keine Lösung bieten. Viel­leicht nur die Warnung, dass hier­zu­lande die europäi­schen Lebens- und Glau­bens­kon­zepte mit ihren unter­schwel­ligen Rassismen gefähr­li­cher sind, als die offen ausge­lebten Tradi­ti­ons­mo­delle der einge­wan­derten Reli­gi­ons­gruppen. Denn die einzig abstoßende Gestalt des Films ist der katho­li­sche Pfarrer. Dass er sich am aller­we­nigsten um die wirk­li­chen Verhält­nisse von Roisin schert, ihr aber seine realitäts­fernen Vorschriften aufzwängen will und damit den Zusam­men­bruch ihrer Liebe und ihres Beruf in Kauf nimmt, macht ihn zum blinden Fanatiker. Das Kreuz, das hinter ihm an der Wand hängt, ist das bedroh­lichste Zeichen für die Opfer­be­reit­schaft, die von den Liebenden in Just a Kiss verlangt wird.

Thomas Schöffner

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Author: Pres. Carey Rath

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