Das neueste Werk des Sozialporträtisten Ken Loach erzählt eine Liebesgeschichte vor der Folie zweier nicht zu vereinbarenden Kulturen. Damit entfernt sich der Regisseur von seinen bevorzugten Sujets aus dem wütenden und heruntergewirtschafteten Großbritannien der Thatcher-Ära. Herausgekommen ist ein politisch korrekter, bisweilen sympathischer aber insgesamt nur mittelmäßiger Ken-Loach-Film.
Zum dritten Mal in kurzer Folge situiert der sozialkritische Altmeister des „New British Cinema“ Ken Loach einen Film in Glasgow. Doch nach der fröhlich-melancholischen Geschichte um den Arbeitslosen Joe in Mein Name ist Joe (My Name is Joe, 1998) und dem eindringlichen Sweet Sixteen (2002), in dem der Teenager Liam aus Liebe zur Mutter zum Drogendealer wird, verlässt Ken Loach nun die Milieus sozial Benachteiligter aus den proletarischen Gesellschaftsschichten. Sein jüngster Film ist eine Liebesgeschichte zwischen einem Pakistani und einer irischen Lehrerin, deren Liebe im religiösen Konflikt zweier Kulturen auf die Probe gestellt wird.
Der Film beginnt mit einer ausdrucksstarken Szene, die den zentralen Konflikt des Films markiert. Vor einer Schulklasse hält die junge Tahara einen Vortrag über sich selbst als Pakistanerin, als Muslimin, als selbstbewußte Frau und als Fußballfan. Laut und leidenschaftlich wehrt sie sich gegen den Hass, der Muslimen entgegengebracht wird, und gegen die Vorurteile mit denen sie als Tochter einer Einwandererfamilie in der westlichen Welt zu kämpfen hat. Eben noch von der Klasse bejubelt wird sie direkt nach der Schule von Mitschülern beschimpft und verfolgt. Ihr großer Bruder Casim kommt zu Hilfe und die Verfolgungsjagd endet im Klassenzimmer der Musiklehrerin Rosin. Aus der anfänglichen Sympathie entwickelt sich bald eine Liebe zwischen dem pakistanischen DJ Casim und der katholischen Irin Rosin. Eine Liebe, die sich gegen Religion und Tradition behaupten muss. Casims streng religiöse Eltern haben bereits eine Hochzeit mit seiner Cousine arrangiert und setzten alles daran, ihn aus der unheiligen Beziehung mit einer Weißen zu lösen. Aber auch die in Scheidung lebende Musiklehrerin läuft Gefahr, ihren Job zu verlieren, da an der katholischen Schule ihre außereheliche Beziehung mit Casim nicht geduldet wird.
Es ist die alte, melodramatische Geschichte einer Liebe, die gesellschaftliche Fesseln sprengen und die sich im Zusammenstoß zweier nicht vereinbarer Kulturen behaupten muss. Weniger verwunderlich ist es, dass Ken Loach diesen Konflikt realistisch und didaktisch aufbereitet. Das ist man von ihm gewohnt. Jedoch neu ist eine für Ken Loachs Filme ungewöhnliche Hinwendung zur Sinnlichkeit, mit der er in expliziten Liebesszenen versucht, die Liebe zwischen Rosin und Casim plastisch zu erzählen. Stellenweise finden sich die großen Loach-Momente, in denen der Film durch humorvolle wie detaillierte Milieuschilderungen glänzt. Fein beobachtet ist ein formales Treffen der beiden pakistanischen Familien zur Hochzeitsvorbereitung, in dem sich die Kinder den Ritualen der Eltern unterwerfen. Stellenweise sind Figuren und Situationen so liebevoll gezeichnet, dass die Schwere des Konflikts mit einem Schmunzeln ins Gleichgewicht gebracht wird.
Doch so politisch korrekt und gut gemeint die Anordnung des Konfliktes ist, der eigentlichen Liebe fehlt es an Dringlichkeit, um über die Dialektik der Versuchsanordnung hinwegzuhelfen. Eine solche Liebe zwischen Freiheitsdrang und Familientradition muss brennen, die Angst vor sozialer Isolation zugunsten des Herzens wird auf der Leinwand aber leider nicht spürbar. Es wirkt, als ob Ken Loach nicht weit genug in die sozialen Strukturen und religiösen Traditionen der pakistanischen Gemeinde vordringen konnte. Dort wo er in seinen älteren Filmen tief in sozialrealistische Beobachtungen des Arbeitermilieus eines heruntergewirtschafteten Englands der Thatcher-Ära einsteigt, wird der Druck auf die beiden Liebenden und die Konventionen der muslimischen Gemeinde standardisiert erklärt, aber nicht in aller psychologischen Tiefe gezeigt. Geradezu didaktisch konstruiert wirkt zudem der Konflikt auf der katholischen Seite, wenn Rosin der Karikatur eines traditionell-katholischen Pfaffen gegenüber sitzt, der ihre Beziehung mit Casim aufbrausend herunterputzt. Und auch die Liebesszenen selbst wirken zwischen gestenreichen Diskussionen eigenartig isoliert und formalisiert.
Verglichen mit Ken Loachs Werk überzeugt Just a Kiss (Ae Fond Kiss…) nur teilweise. Statt einem feinfühligen Sozialportät wie Mein Name ist Joe (My Name is Joe, 1998) oder Raining Stones (1993), in denen man trotz dramaturgischer Dialektik den rechtschaffenden Protagonisten mit Gefühl nahe kommt, ist Just a Kiss ein insgesamt etwas hölzerner Ausflug ins Kultursoziologische, der nur stellenweise berührt. Nicht zuletzt liegt das auch an den beiden Hauptdarstellern, die zwar sehr gut aussehen und sich formschön in romantische Bildinszenierungen einfügen, in den dialoglastigen Streitszenen in ihrer Ausdrucksfähigkeit aber mehr an Schauspielschüler erinnern, als an wirklich Liebende, die am äußeren Druck gesellschaftlicher Konventionen verbrennen.
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Film-Angaben
Titel
Just a Kiss
Originaltitel
Ae Fond Kiss...
Produktion
Belgien, Deutschland, Italien, Spanien, Großbritannien 2004
Laufzeit
104 Minuten
Kinostart
Regie
Ken Loach
Drehbuch
Paul Laverty
Produktion
Rebecca O’Brien
Darsteller
Shamshad Akhtar, Ghizala Avan, Eva Birthistle, Shabana Bakhsh, Pasha Bocarie, Gerard Kelly, Ahmad Riaz, Atta Yaqub
Genres
- Drama
- Liebesfilm
Copyright
Fotos: © Neue Visionen
Links
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